Inzwischen war ich in diesem Jahre (1518 oder 1519) zu einer zweiten Auslegung des Psalters zurückgekehrt, im Vertrauen darauf, daß ich nun geübter sei, nachdem ich die Briefe des Paulus an die Römer, an die Galater und den an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte. Denn ich war von einer ganz wunderbaren Glut ergriffen gewesen, Paulus im Römerbrief zu verstehen, aber es war mir bisher ein einziges Wort im Wege gestanden in Kap 1, Vers 17: 'Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart'. Ich haßte nämlich dieses Wort 'Gerechtigkeit Gottes', weil ich nach Brauch und Gewohnheit aller Kirchenlehrer unterwiesen worden war, es philosophisch zu verstehen von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit, wonach Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. Ich aber liebte den gerechten und die Sünder strafenden Gott nicht, ja ich haßte ihn; denn ich fühlte mich, so sehr ich auch immer als untadeliger Mönch lebte, vor Gott als Sünder mit einem ganz und gar ruhelosen Gewissen und konnte das Vertrauen nicht aufbringen, er sei durch meine Genugtuung versöhnt. So zürnte ich Gott, indem ich sagte: Nicht genug damit, daß die Sünder durch das Gesetz der zehn Gebote bedrückt werden - nein, Gott will (auch noch) durch das Evangelium auf den alten Schmerz neuen Schmerz häufen und auch durch das Evangelium uns seine Gerechtigkeit und seinen Zorn drohend entgegenhalten. Und doch schlug ich mich an jener Stelle rücksichtslos mit Paulus herum, da ich glühend darnach lechzte, zu wissen, was Paulus wolle.

So lange, bis ich endlich unter Gottes Erbarmen, Tage und Nächte lang nachdenkend, meine Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang der Worte richtete, nämlich 'Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben', - da begann ich die Gerechtigkeit Gottes verstehen lernen als die Gerechtigkeit, in der der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt, und zwar aus dem Glauben, und ich fing an zu verstehen, daß dies die Meinung ist, es werde durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben.

Da fühlte ich mich völlig neugeboren und als wäre ich durch die geöffneten Pforten ins Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sogleich die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Ich durchlief darauf die Heilige Schrift, und sammelte auch in andren Ausdrücken einen entsprechenden Sprachgebrauch, wie z.B. 'Werk Gottes', d.h. das Werk, das Gott in uns schafft; 'Kraft Gottes', durch welche er uns kräftig macht; 'Weisheit Gottes', durch welche er uns weise macht usw.

So groß vorher mein Haß war, mit dem ich das Wort 'Gerechtigkeit Gottes' gehaßt hatte, so groß war jetzt die Liebe, mit der ich es als allersüßestes Wort rühmte. So ist mir diese Stelle des Paulus wahrhaft zu einer Pforte des Paradieses geworden. Später las ich Augustin 'Vom Geist und vom Buchstaben' (aus dem Jahr 412), wo ich wider Erwarten darauf stieß, daß auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich auslegt: als diejenige, mit der uns Gott bekleidet, indem er uns rechtfertigt. Und obgleich dies noch unvollständig gesagt ist und Augustin über die Zurechnung (imputatio) (der Gerechtigkeit Gottes) nicht alles klar entwickelt, so wollte er doch, daß Gottes Gerechtigkeit gelehrt werde (als solche), durch die wir gerechtfertigt werden.

Zitiert nach Walter von Löwenich, Martin Luther. Der Mann und das Werk, München 1982 S. 80f