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Platon, Der Tod des Sokrates

In den Evangelien durchdringen sich geschichtliche Ereignisse und theologische Deutungen. Ähnlich verhält es sich mit den Dialogen Platons. Sie zeichnen ein Bild von Sokrates, in dem die Verehrung Platons für seinen Lehrer die biographische Wirklichkeit liebevoll verklärt. Sokrates selbst erscheint darin als der Anwalt der philosophischen Überzeugungen Platons.

Die Athener verurteilten Sokrates im Jahre 399 v. Chr. zum Tod durch den Giftbecher, weil er - so die Anklage - nicht an die staatlichen Götter glaube, neue Götter einführe und die Jugend verderbe.

Die letzten Stunden vor seinem Tod, die Sokrates im Kreise seiner Freunde verbringt, bilden den Rahmen des Dialogs »Phaidon«. Darin erzählt Phaidon, ein Zeuge der Ereignisse, vom Sterben des Sokrates und von den Gesprächen, die diesem vorausgingen. Jene Gespräche, ein Kranz von Erörterungen zwischen Sokrates und seinen Freunden, kreisen um den Tod. Der Philosoph tritt ihm gelassen und ohne Furcht entgegen; denn er glaubt, dass mit dem Tod die unsterbliche Seele sich von den Fesseln des Körpers befreit und in ihre Heimat, in das göttliche Reich der Ideen, zurückkehrt. Sokrates bewährt seine philosophische Lehre von der Präexistenz und dem Fortleben der Seele in der Stunde seines Todes.

Nachdem er gebadet hatte, brachte man seine Kinder zu ihm - er hatte nämlich zwei kleine Söhne und einen großen - und es kamen auch die Frauen seiner Verwandtschaft. In Kritons Gegenwart sprach er mit ihnen und trug ihnen auf, was sein Wille war; dann hieß er die Frauen und Kinder wieder fortgehen, er selbst aber kam zu uns. Und der Untergang der Sonne stand schon nahe bevor, denn er hatte lange Zeit drinnen verweilt.

So kam er also, setzte sich frisch gebadet nieder und sprach danach nicht mehr viel. Dann kam der Diener der Elf-Männer, trat zu ihm und sprach:
„Sokrates, über Dich werde ich nicht klagen müssen, wie ich über andere zu klagen habe, daß sie mir zürnen und fluchen, wenn ich sie aufforderte, nach dem Befehl der Archonten das Gift zu nehmen. Dich aber habe ich auch in anderer Beziehung während dieser Zeit als den edelsten und sanftesten und besten Mann von allen erkannt, die jemals hierher gekommen sind; und so weiß ich denn auch jetzt gewiß, daß Du nicht mir zürnest, sondern jenen - denn Du kennst ja die Schuldigen. Also denn, Du weißt, mit welcher Botschaft ich gekommen bin; lebe wohl und suche das Unvermeidliche so leicht als möglich zu tragen!“ Dabei traten ihm die Tränen in die Augen, und so wandte er sich um und ging.

Und Sokrates sah ihm nach und sprach: „Auch Du lebe wohl, und tun wir also [wie Du sagst].“ Und rasch zu uns [gewendet] sprach er: „Wie feinfühlig ist der Mann! Auch während dieser ganzen Zeit kam er zu mir und unterhielt sich zuweilen mit mir und war der beste Mensch - und jetzt, wie ehrlich beweint er mich! Aber wohlan, Kriton: laß uns ihm gehorchen, und es bringe einer das Gift, wenn es [schon] gerieben ist. Wenn aber nicht, dann soll der Mann es reiben.“

Da sagte Kriton: „Aber ich glaube, Sokrates, die Sonne steht noch auf den Bergen und ist noch nicht untergegangen! Und zudem weiß ich, daß auch andere erst sehr spät, nachdem es ihnen angekündigt worden war, getrunken haben, und haben sogar noch sehr gut gegessen und getrunken, und einige waren noch mit Schönen zusammen, nach denen sie gerade Verlangen hatten. Übereile Dich also nicht, denn Du hast noch Zeit.“

Da sagte Sokrates: „Mit Recht, Kriton, tun jene, von denen Du redest, diese Dinge, denn sie glauben etwas zu gewinnen, wenn sie so tun - und mit Recht will ich meinerseits sie nicht tun; denn dadurch, daß ich ein wenig später trinke, glaube ich weiter nichts zu gewinnen, als daß ich mich vor mir selber lächerlich mache, wenn ich so am Leben klebe und da spare, wo nichts mehr ist. Geh also“, sagte er, „gehorche mir und suche nichts anderes zu tun.“

Als Kriton das hörte, winkte er dem Knaben, der in seiner Nähe stand. Und der Knabe ging hinaus, und nachdem er längere Zeit weggeblieben, kam er und führte den [Mann] herein, der das Gift reichen sollte und es, [zum Trinken] gerieben, in einem Becher brachte. Wie Sokrates den Mann sah, sprach er: „Also, mein Bester, Du verstehst Dich ja wohl darauf: was muß man tun?“

„Nichts weiter als folgendes“, antwortete [jener]: „Wenn Du getrunken hast, geh umher, bis Dir die Schwere in die Schenkel kommt. Dann lege Dich nieder, und so wird es von selbst wirken.“

Damit reichte er dem Sokrates den Becher. Und der, Echekrates, nahm ihn, und zwar ganz heiter, ohne zu zittern noch die Farbe oder die Gesichtszüge zu verändern; sah vielmehr dem Mann, wie er gewohnt war, fest ins Auge und sprach:

„Was meinst Du, ob man von diesem Trunk jemandem spenden darf? Ist es erlaubt oder nicht?“

„Wir reiben nur soviel, Sokrates“, antwortete [jener], „als unserer Meinung nach das Maß für einen Trunk beträgt.“

„Ich verstehe“, sagte [Sokrates]. „Aber zu den Göttern beten darf man doch wohl gewiß und soll es auch, auf daß die Wanderung von hier dorthin heilbringend vonstatten gehe. Darum bete ich denn auch, und möge es also geschehen!“ Und kaum hatte er das gesagt, setzte er an und trank sehr heiter und gelassen aus.

Die meisten von uns waren bis jetzt einigermaßen imstande gewesen, sich zu beherrschen und nicht zu weinen, als wir aber sahen, wie er trank, und dann, wie er getrunken hatte, nicht mehr.

Auch mir flossen die Tränen gegen meinen Willen und in Strömen herab, so daß ich mich verhüllte und mich selbst beweinte - denn nicht ihn, sondern mein eigenes Los [beweinte ich], weil ich eines solchen Freundes beraubt sein sollte. Kriton war noch vor mir aufgestanden, weil er die Tränen nicht zurückzuhalten vermochte. Apollodoros aber hatte schon vorher nicht aufgehört zu weinen und schrie nun auf, klagend und außer sich geratend, und unter den Anwesenden war nicht einer, den [sein Jammer] nicht erschüttert hätte, außer Sokrates selbst.

Der aber sagte: „Was tut Ihr doch, Ihr törichten Leute? Ich habe doch eben deswegen die Frauen weggeschickt, damit sie keine solche Torheiten anstellen sollten - habe ich doch gehört, man müsse unter heiligem Schweigen sterben. Haltet also Ruhe und seid standhaft!“

Und als wir das hörten, schämten wir uns und hörten mit Weinen auf.

Er ging umher, und als, wie er sagte, seine Schenkel schwer wurden, legte er sich auf den Rücken, denn so hatte der Mann ihn geheißen. Dieser, der ihm das Gift gegeben, befühlte ihn dann nach einiger Zeit und untersuchte seine Füße und Schenkel. Darauf drückte er ihm heftig den Fuß und fragte, ob er es empfinde, [Sokrates] aber verneinte es; und danach die Unterschenkel, und so ging er immer höher hinauf und zeigte uns, wie er erkaltete und erstarrte. Und [dann] faßte er ihn [noch einmal] an und sagte, wenn es ihm bis ans Herz komme, werde er sterben. Schon war er um den Unterleib her fast kalt geworden, da enthüllte er sich noch einmal - denn er hatte sich verhüllt - und sagte, was seine letzten Worte sein sollten:

„Kriton, wir schulden dem Asklepios einen Hahn. Opfert ihm den und versäumt es nicht!“

„Wahrlich, das soll geschehen“, antwortete Kriton. „Aber sieh, ob Du sonst noch etwas sagen willst?“

Auf diese Frage antwortete er nichts mehr, sondern kurze Zeit darauf zuckte er, und der Mann deckte ihn auf: da waren seine Augen gebrochen. Als Kriton das sah, schloß er ihm den Mund und die Augen.

So war das Ende unseres Freundes, Echekrates - eines Mannes, von dem wir wohl sagen dürfen, daß er unter allen, die zu seiner Zeit lebten und die wir kennenlernten, der Beste und überhaupt der Einsichtsvollste und Gerechteste gewesen ist.

aus: Konzepte 3. Materialien für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe II S. 18f

 

 

 

Bild aus: Microsoft Encarta 2000