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READER—Was kommt nach dem Tod?

Textfeld: Die alttestamentliche Sicht des Menschen
Die anthropologische Fundamentalunterscheidung von Seele und Leib ist den alttestamentlichen Traditionen fremd.... In ihnen erfährt sich der Mensch vielmehr in einer bestimmten Geschichte Gottes. Es ist im engeren Umkreis die Geschichte der Berufung, Befreiung, des Bundes und der Verheißung. Es ist im weiteren Horizont die Geschichte der Schöpfung und der Erlösung der Welt. In dieser Geschichte Gottes erscheint der Mensch immer als ein Ganzer. »Seele« und »Leib« werden nicht als Bestandteile des Menschen analysiert. Als Gott dem Erdenklumpen nach der jahwistischen Schöpfungsgeschichte seinen Atem einhaucht, heißt es: »So wurde der Mensch zur lebendigen Seele.« Er hat keine Seele, sondern ist »lebendige Seele«. Stirbt der Mensch, dann kann er mit den Psalmen klagen: »Ich bin vom Tode bedroht, ich bin Fleisch.« Er hat nicht Fleisch, er ist Fleisch. Nie werden Leib, Seele, Geist als anthropologische Begriffe nebeneinander verwendet und zur gegenseitigen Ergänzung genannt. Offenbar ist der Mensch immer ganz betroffen und konkretisiert sich auf verschiedene Weise in den verschiedenen Beziehungen. Er findet an seinem Gott auch keine Möglichkeit, sich auf eine unsterbliche Seelensubstanz zurückzuziehen, um Glück und Schmerz, Leben und Sterben seines Leibes zu überwinden. Vor seinem Gott kann er nur als Ganzer erscheinen, wie das Sch'mah Israel sagt: »Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit allen deinen Kräften« (Dt. 6,5). Das hebräische Denken fragt nicht nach dem Wesen und den Bestandteilen einer Sache, sondern nach ihrem Werden und Wirken. Darum erkennt auch der Mensch sich selbst nicht durch Reflexion und Introspektion, sondern in den Erfahrungen der Geschichte des Bundes und der Verheißungen seines Gottes. .... Der Mensch hat eigentlich keine Substanz in sich, sondern er ist eine Geschichte. Darum arbeitet die Anthropologie des Alten Testaments auch weniger mit Definitionen als vielmehr mit Erzählungen. In ihnen wird der Mensch nicht durch Begriffe festgestellt, sondern in seinen Lebensbeziehungen dargestellt.

aus: Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung, 1985, S. 260